Auch wenn es Titel wie „Wüste“, „Meer“ oder „Kieselalge“ nahe legen, so ist die Natur nicht die alleinige Quelle der Inspiration. Vielmehr bringt die Künstlerin gewachsene Formen in ein lebendiges Wechselspiel mit Formen der Geometrie und der Architektur. Diese Offenheit in der formalen Rezeption lässt Kunstwerke entstehen, die das Serielle der perfekten und reproduzierbaren Form legieren mit der Einzigartigkeit der natürlich gewachsenen Form. Sehr schön zu beobachten ist der Charakter der Formen-Legierung in der Serie „Pha – Inde - Kol – Tri“ und in der Trilogie „Eins-Zwei – Opuls – Plutea“. Jede Arbeit steht für sich, zusammen gesehen, variieren die Objekte jedoch eine Grundform. So wirken die einzelnen Arbeiten wie Statuen, unbeweglich, fast erstarrt. Zugleich sind sie Moment­auf­nah­men eines Prozesses, der, naturähnlich, Entwicklung und Wachstum dokumentiert, die Überführung der einen in eine andere Form. Solche Transformationen einer Grundform eröffnen den Kunstwerken von Silvia Fassel eine Vielschichtigkeit, welche das Eindeutige des ersten Blicks als vermeintlich erscheinen lässt. So sind etwa die Arbeiten „Wüste“ und „Meer“ in Kom­po­si­tion und Verwirklichung durchaus verwandt. Titelsetzung und Farbwirkung der Materialien lassen sie jedoch zum spannungsreichen Gegensatzpaar werden. Einen weiteren Grad der Differenzierung erreichen die Arbeiten der Serie „Hemisphäre“ I, II, III. Die Gips-Skulpturen sind minimalistisch im zweifachen Sinn: Zum einen prägt das unkaschierte Material die sinnliche Anmutung. Zum anderen sind es die äußert reduzierten Formen, die gewissermaßen die Essenz des Begriffes „Hemisphäre“ abbilden, welcher eine mathematische (halber Ku­gel­körper), eine geographische (Hemi­sphä­­ren der Erde), eine astronomische (Halbkugeln von Himmelskörpern) sowie eine medizinische Bedeutung haben kann (Hirnhälften).

Das gegenläufige Prinzip zu Entfaltung und Differenzierung ist die Rückführung der Viel­falt auf Grundformen. Es ist kein Zu­fall, dass Silvia Fassel sich mit den Grund­formen des Lebens beschäftigt. Durch­aus motiviert durch Forschergeist, erkundet sie als Künstlerin die Welt der Einzeller und Algen. Die Einfachheit als Merkmal vieler dieser Formen verleiht, transferiert auf die Kunstwerke Fassels, ihren Skulpturen eine Leichtigkeit, welche das Schwere der eingesetzten Materialien wie Stahl, Bronze, Messing, Beton oder Gips vergessen macht. Exemplarisch für die Reduktion als Cha­rak­teristikum des künstlerischen Schaf­fens zeigt die Arbeit „Udhar“, dass sichtbar vorhandene und von der Künstlerin in Form gebrachte Materie im Immateriellen der Auslassung ihre komplementäre Form und damit ihre Vollendung findet.

Dabei geht es Silvia Fassel generell nicht darum, vorgefundene Formen nachzuahmen oder gar abzubilden. Ihre Kunstwerke lösen sich dezidiert vom Gegenstand der Inspiration ab, werden als selbstständige Objekte konzipiert und im Schaffensprozess zu einer Kunst-Form weiterentwickelt: Hier gilt nicht „Form follows function“, sondern „Form follows form“. Die Kunstwerke Silvia Fassels enthalten ein mutiges Bekenntnis. Sie bekennen sich zur Schönheit der Form – vielfältig, mehrschichtig und differenziert, vor allem jedoch schnörkellos, einfach und klar.

 

Dr. Hermann Ühlein