Unter einem Glas ist ein Objekt luftdicht verschlossen. Viele kleine Stoffteile, deren Herkunft und Geschichte Simona Deflorin meist kennt, sind zu zahlreichen 2 bis 3 cm kleinen Bollen – Pompons – zusammengenäht. Pompons an der Kleidung kamen in den 1940er Jahren auf. Darunter sind auch solche aus schwarzem gekrausten Fell, dem so genannten Persianerfell oder Breit­schwanz, deren Gewinnung nicht nur für Tier­schüt­zer­Innen auf ein grausames Pro­cedere zu­rückzuführen ist. Fest sind die Bollen in ein Glas aus der Biedermeierzeit gepresst. In einem der vier Glasstürze befindet sich ein Spielzeugkrokodil. Es ist doppelt geschützt, durch die Stoff- und Fellbollen und durch das Glas. Kommu­ni­ziert soll es werden, dies passiert durch die Radiographie, die in ei­nem Schaukasten ausgestellt ist. Der wohl bekannteste Ver­treter der Arte Povera Mario Merz hat in seinem Werk „Crocodilus Fibonacci“ 1991 die Haut einer Echse verwen­det. Echsen sind entwicklungsgeschichtlich Millionen Jahre alt. Es sind Tiere, die ihre Lebens­funktionen auf ein Mini­mum reduzieren können, die stundenlang ruhig daliegen können, dann aber von einer Sekunde auf die andere in Bewegung geraten, zum Bei­spiel nach Beute fassen. Diese Eigen­schaft erinnert die Künstlerin auch daran, dass sie selber Rückzug benötigt, um sich nach einer Zeit des Ruhens und Stillstehens wieder an die Gestaltung des nächsten Kunst­werks zu machen. Daraus kann eine Serie von Gemälden entstehen, ein Objekt wie dieses zweiteilige „caprice de Dieu“, aber auch der abgeschlossene Zyklus der Ahnen.

Der Zyklus der zwölf Ahnen zeigt sich ausnahmslos unter einer Glasglocke, mal komplett abgeschlossen, meist jedoch mit einem – wenn auch geringen – Luftraum. „Für den, der eingezwängt und wie ein totes Baby in der Glasglocke hockt, ist die Welt selbst der böse Traum“, äußerte Silvia Plath 1953 in ihrem Roman „Die Glasglocke“. Die Malerei von einem Kopf im Glas durch Simona Deflorin jedoch zeigt lebendigen Aus­druck an erwachsenen Köpfen. Schauend und fühlend sei überprüft, wie viel sie über Bewusstseinszustände unserer Gesellschaft heute aussagen.

Vorab ein kurzer Rückblick in die Kunst­geschichte der Niederlande vom 17. bis in das 21. Jahrhundert mit der Darstellung der Tronies. In der Malerei bezeichnete ein Tronie eine eigene und selbständige Bild­form. War ein Tronie erst allgemein ein Kopf ohne exakt festzulegende ikonographische Bedeutung, so wurde dieser bei Rembrandt und Umkreis als Charakter- und Ausdruckskopf gemalt. Es genügte das Gesicht eines lachenden (unbekannten) Mannes oder Kindes, das seine Zähne entblößt. An diese Tradition knüpft Marlene Dumas seit den 1980er Jahren an, und in diese Tradition sei Simona Deflorin gestellt. Die zwölf Gesichter mögen ins Glas ge­zwängt sein, (un)bekannte Vorbilder aus Fotografien haben, doch allesamt schauen sie „aus Fleisch und Knochen“ zum An­fassen lebendig höchstpersönlich durch ihre Glaswand. Zwar ist dieses Glas über den Kopf gestülpt, verdeckt diesen „behütet“ mindestens vom Scheitel bis zum Mund, aber auch bis über die zumeist schmalen Schultern. Die Ahnen blicken uns Be­trach­tende selten an, umso mehr können sie angeblickt werden und sind unter dem Glas­sturz unseren beharrlichen Blicken ausgesetzt. Die Oberfläche ihrer Gesichter ist vielschichtig, vielfarbig und lässt so tief in das Innere ihrer spezifischen Bewusst­seins­zustände blicken. Allen Köpfen gemein ist ihre Verletzlichkeit. Sie kommt stark in den Blicken zum Ausdruck. Seien diese in eine unbestimmt Ferne gerichtet: „Gina“. Oder an und auf etwas neben dran gerichtet „Joa˜o“. Auch mit halbgesenkten Lidern nach unten, „unsagbar“ erzählen sie Be­trach­ten­den aus ihrer Geschichte. Und er­greifen uns dabei, sofern auch wir unsere Sinne für sie öffnen. Denn nicht nur ihrer Schöpferin Simona Deflorin muss ein Por­trät sympathisch sein, um weiter daran zu arbeiten, auch Betrachtende bedürfen mindestens eines Entleerens vom alltäglichen Blick.

Technisch erreicht die Malerin diese Fähig­keit durch das Gestalten des Bild­trägers. Er muss grundiert, aus sich heraus wachsend gleichsam mit Farbe und Pinsel gebaut werden. Auf Stirn-, ­Wangen-, Nase- und Kinnpartien sind oft kleinflächige bis abstrakte Farbflecken gesetzt, die Konturen um Augen, Nase und Mund zeichnerisch gezogen und malerisch geformt. So werden Münder geschlossen dargestellt, mit Lippen, die einander sanft berühren, einen Hauch voneinander entfernt sind oder wie „Der kleine Strolch“ und „Monument für Miss Anton“ eine kleine Öffnung zeigen, aus der die Zunge oder auch ein Ton entfliehen möchte. Die Nase sitzt mitten im Gesicht, gerade, leicht schräg oder auch durch ein weißes Etwas an den Nasen­löchern und der rechten Wand verhüllt „Nr. 12“. Um Hälse legen sich helle und dunkle geschmückte Krägen, windet sich auch mal eine zarte Schlange „Darling“. Und immer wieder verdecken Streifen das Gesicht, setzen sich ver­tikal, horizontal und diagonale Schlie­ren zwischen Glas und Kopf.

Die verschiedenen Dichtezustände geschaffener Physis unter der Glaswand sind nicht immer auseinander zu halten. Und es ist auch nicht leicht, gewordene Hautpartien mit dem Darunter zu malen.

Immer von Nöten ist ein genaues Betrach­ten, auch wenn Widersprüche dabei zu toben beginnen. Diese zwölf Porträtköpfe zeigen Charaktere und erzählen aus Ge­schich­ten von Individuen, die die Be­trach­tenden selbst an den Schicksalen, und was diese einem Gesichte antun, teilhaben lassen. Unsagbar großer Schmerz verlangt Ab­­­stand.

Ahnen werden ja gemeinhin als unsere Vorfahren verstanden, solche, von denen wir eine Ähnlichkeit mit uns selber ahnen. Da ist es nur konsequent, dass Simona Deflorin ein Selbstporträt zeigt. Sie präsentiert ihr Gesicht en face hinter einer in ­flüssige Konsistenz verwandelten Fecht­maske. Dabei weicht die linke Schulter leicht zurück. Es handelt sich um das Por­trät als eine Spiegelung ihrer selbst.

 

Andrea-Silvia Végh, 2014

 

 1 Die Entwicklung ist auch in der kunstwissenschaftliche Forschung wieder aufgegriffen worden:

Hirschfelder Dagmar, 2008

 

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